Juni 2, 2023

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Das Lehrerzimmer

Das Lehrerzimmer - Filmplakat
© 2023 Alamodefilm

Man merkt, dass irgendwas anders ist? Irgendwie hemmen mich die Ereignisse der vergangenen Tage immer noch, mein Maul wieder „normal“ aufzureißen und ich finde es unangebracht, einfach „munter weiterzumachen“ und so zu tun, als wäre nichts gewesen.

Da sind dann auf einmal tausend Fragen. Ist es angemessen, in dem Zustand über Filme zu schreiben, die eigentlich damit gar nichts zu tun haben? Werde ich diesen Inhalten gerecht oder beziehe ich alles auf meine Situation und bin daher kurzerhand als Kritiker ungeeignet?

Sollte ich mich in dem psychischen Zustand überhaupt mit Filminhalten auseinandersetzen, oder lieber versuchen, mein Leben wieder in den Griff zu kriegen?

Oder hilft es sogar, sich einfach hin und wieder mal mit völlig fremden, „unwichtigen“ Themen auseinanderzusetzen, um wieder den Kopf frei zu kriegen und etwas anderes zu tun?

Zur Zeit muss ich mich wirklich zwingen, Dinge zu vervollständigen. Wenn irgendjemand nen psychischen Schaden in meinem Leben suchen (und finden) will – hier wäre einer. Ich spür’s selbst und es erschüttert mich, wie stark mich diese Szenen getroffen haben. Flucht nach vorne – ich schreibe drüber. Selbsttherapie und unpersönliche Offenbarung, aktuell irgendwie mein Weg, damit klar zu kommen und irgendwie weiter zu machen.

Sorry an der Stelle für all jene, die eigentlich nur auf die herkömmlichen Rezis scharf sind und blindlings etwas über ihre gewünschten Filme lesen wollen. Ich hoffe, das gibt sich wieder – besser früher als später. Bin mir im gleichen Atemzug aber auch sicher, dass an dem Knacks, den das in meiner Persönlichkeit hinterlassen hat, lange Zeit gearbeitet werden muss und sich seitdem irgendwas nachhaltig an meinem Empfinden zum Negativen geändert hat.

Ich versuche mich dennoch an diesem Film, allein schon, weil ich es meiner einstigen Freude darüber schuldig bin und mich innerlich dafür verfluche, nicht rechtzeitig dagewesen zu sein, um euch davon zu erzählen.

Was ich von Anfang an gesagt habe: Dieser Film hat ein PR-Problem. Ich habe dafür ein Experiment gemacht. Ich habe den Film gesehen, mir das Plakat (und auch den Trailer) dazu angeschaut und dachte mir: Yoah, stimmt schon, passt, macht Sinn und ist treffend. ABER! Erst, wenn du den Film auch gesehen hast.

Damit ist dieses Plakat eigentlich völlig ungeeignet, um für den Film zu werben, weil das gänzlich andere Erwartungen auslöst. Ich hab die Wirkung nämlich umgedreht und einfach ein paar Leute in die Premiere reingeschleift und sie dann gefragt, wie sie den Film fanden und ob sie ihn empfehlen würden – definitiv. Und ob sie auch reingegangen wären, wenn ich sie nicht dazu „gezwungen“ hätte, sondern nur aufgrund des Plakats oder des Trailers. Definitiv nein.

Interessant, dass es nicht nur mir so geht. Das Lehrerzimmer basiert auf wahren Begebenheiten von Regisseur Îlker Çatak und Drehbuchautor Johannes Duncker, denen die Umstände im Film in ihrer Schulzeit widerfahren sind. Die beiden haben sich überlegt, wie man das ins deutsche Schulsystem adaptieren könnte und dafür unfassbar viele (und gute) Recherchen gemacht, die tatsächlich praktizierende Lehrerinnen bei der Premiere zu Wortmeldungen gereizt hat, bei denen sie fragten, wie man es schaffen konnte, den Schulalltag aus Sicht eines Lehrers so präzise und genau zu erfassen und wiedergeben zu können.

Und ja, das Werk kommt an. Besonders erfrischend (ein Wort, das ich inflationär benutze, mir angesichts des Staubs in der Gesellschaft aber immer wieder … erquicklich vorkommt) daran: Die Macher wollten keine systemkritische Scheiße, irgendwelches Rumgemoralapostel oder sonstige Absichten, sie wollten einfach einen Film machen und über etwas reden. So ganz ohne Hintergedanken.

Und genau das macht diesen Film besonders. Es ist indirekt ein moralischer Fingerzeig, offensichtlich aber nicht dafür da, um etwas zu kritisieren, sondern viel eher eine Art „Bestandsaufnahme“, die das Schulsystem beleuchtet und in Sachen Bildung und menschlicher Umgang miteinander ein paar Dinge offenbart.

Dabei wird ein System gemalt und systematisch in das zerissen, was wir „Realität“ nennen – und diese Eskalation spricht Bände und ist vielleicht genau deshalb so gut, weil das nicht der Punkt des Films ist. Die Gedanken, die sich der Zuschauer währenddessen (und danach) machen kann, sind so weitreichend und variabel, dass jeder selbst seine Erkenntnisse daraus gewinnen kann und das Stück selbst wie ein Moment in der Schule ist: Man hat ein Thema und jeder nimmt seine Quintessenz daraus mit.

Gewissermaßen geht es sogar darüber hinaus, weil Schule in sich ja eigentlich ein eingeschlossener Kosmos von etwas viel Größerem ist und man die Problematiken genausogut im Alltag außerhalb des Schulgeländes anwenden könnte und es hier um Themen geht, die im Berufsalltag oder im sozialen Miteinander in der Freizeit am See genauso eine Rolle spielen und „tagesaktuell“ sind.

An dieser Stelle zündet dann womöglich der Funke zum erwachsenen Publikum, das sich einer neuen Reichweiten-Tragweite bewusst wird und die übergeordnete Dimensioniertheit erkennt und daran den Erfolg des Films bemisst: Er trifft einfach mit jeder Faser ins Schwarze.

Umso befreiender der Paukenschlag, mit dem alles endet – was Publikum zu standing ovations auffordert und möglicherweise im Alltag untergeht – eben, weil die Menschen nach dem Plakat urteilen und entscheiden und nicht daran, wie der Film wirklich ist.

Ich wiederhole meine Bitte: Geht rein und schaut ihn euch an, auch wenn euch das Plakat oder der Trailer abschrecken – der Film ist anders.

Vor der .kinoticket-Empfehlung gibt’s noch ein paar Eindrücke von der Premiere in München in den City Kinos, bei der Hauptdarstellerin Leonie Benesch, Regisseur İlker Çatak und weitere zu Gast waren, um diesen Film dem deutschen Publikum vorzustellen.

.kinoticket-Empfehlung: Wenn man mit Schule durch ist, hat man danach keinen Bock mehr drauf – und das Plakat vermittelt den Eindruck, man müsste wieder in den Unterricht. Probanden meines Tests haben gezeigt: Der Film packt und ist richtig richtig gut, wäre aber von den Zuschauern nicht gesichtet worden, wenn man sie nicht mit Tricks ins Kino gelockt hätte. Also umgeht die PR-Schwäche des Streifens und zieht euch den Gesamtinhalt rein – dann werdet auch ihr beeindruckt sein.

Nachspann: 🔘⚪️⚪️ | Als hätte man ein Rohr freigeblasen und das Wasser könnte wieder ungehindert fließen: Das Ende ist eine Offenbarung und hinterlässt einen bleibenden Eindruck – lasst den auf euch wirken, bevor ihr den Saal verlasst, nachdem das Bild abgedunkelt wurde.

Kinostart: 04. Mai 2023

Original Title: Das Lehrerzimmer
Length: 98 Min.
Rated: FSK 12

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