
Es ist immer wieder herrlich, mitzuerleben, worüber sich Menschen alles so wunderbar echauffieren können, ohne wirklich Ahnung davon zu haben, worüber sie sprechen. Wer was wann wie und warum tut, und wen man alles für seine Handlungen aus dem Nichts heraus zu kritisieren hat, nur weil die allgemeine gesellschaftliche Stimmungslage in Deutschland das gerade so vorschreibt.
Dann sind die schuld, dann ist die Politik schuld, dann sind wieder die schuld, dann wieder die anderen … und irgendwie macht’s alles überhaupt keinen Sinn. Wäre ich Gott und würde über allem stehen und auf die Menschheit als solches hinunterschauen, hätte ich womöglich einen riesigen Spaß dabei oder permanente Kopfschmerzen vom andauernden Facepalmen.
Tatsächlich sind viele der „unlösbaren Probleme und Ängste“, mit denen manch besorgter Bürger umherschweift und sein Leben gerade so vor dem Abgrund zu retten sucht, an der Nase herbeigezaubert und von findigen Journalisten kapitalspendend in Szene gesetzt worden – und würde man sich anhand von ein paar Zahlen und globalen Fakten Überblick über die Lage verschaffen, würde man sehr schnell begreifen, dass es außerhalb vom Bildschirm auch noch fünf andere Seiten gibt: hinten, oben, rechts, links und unten – und begreifen, dass das, was man in Zeitungen oder Online-Magazinen zu lesen bekommt, nur eine von vielen Sichtweisen ist, die niemals alles vollständig offenbaren.
Welche Zeitung schreibt in den Artikel: „Kind tödlich verunglückt auf dem Frankfurter Hauptbahnhof und ich hoffe zu sehr, dass dieser Artikel durch meine reißerische Headline unzählige Klicks generiert und meiner Zeitung möglichst viel Kohle durch Werbeverkäufe einbringt“?
Das wäre schon ein kleines bisschen mehr Wahrheit. Wahrscheinlich geht den „besorgten und absolut geschockten und zutiefst Trauernden“ das Leid anderer dermaßen am Arsch vorbei, weil sie nur denken: „Gott sei Dank, ist nicht mein Kind gewesen, also was solls“ – auch das wäre in vielen Fällen wohl wieder ehrlich.
Nüchtern betrachtet: Ein Jemand (achtet mal drauf, wie die Zeitungen denjenigen bezeichnen und mit welch hypervorsichtigen Mutmaßung man hier auf einmal galant „Terror“, „Anschlag“, „Moschee“ und anderen Müll ins Spiel bringt) hat zwei Menschen vor den Zug gestoßen und wollte dann abhauen, wurde aber geschnappt.
Bewertung? Krank. Und gefasst. Also kümmern sich die Gerichte um ihn. Punkt.
Und jetzt geht der mediale Verbalkrieg los, mit dem wieder „Urängste“ der Bürger geschürt werden, die „Heimat“ (was ist das?) auf einmal gefährdet sehen und die große Rassismus-Einwanderungs-Diversitäts-Gender-Politik-Debatte erbricht sich von neuem über das „dumme Volk“ – ein Jammer!
Ich sehe in mehreren Wochen schon politische Diskussionen im Ersten vor mir, in der über die Zentimeterhöhe von absurden Zäunen an Bahnsteigen diskutiert wird (Es wäre das öffentliche Chaos und würde viel mehr Zerstörung und Wut verursachen, als ohnehin schon im öffentlichen Verkehr besteht) und keiner würde merken, dass wir uns alle damit beschäftigen, dass wir zu „blöd“ sind, um irgendwo nicht eine Kante runterzufallen oder geschubst zu werden, nur weil ein Kranker geistig oder seelisch oder was weiß ich ausgetickt ist und etwas verursacht hat, das in der Tat absolut verurteilungswürdig ist und in höchstem Maße bestraft gehört.
Man kann aber genausogut hingehen und anfangen, metaphysische Analysen zu betreiben und pseudotiefsinnige Fragen stellen wie: „Was hat eine Gesellschaft für einen Wandel hinter sich bringen müssen, damit einzelne Individuen zu solch harten Entscheidungen fähig werden und dann Opfer ihrer selbst werden, um eine so schreckliche Tat auszuführen?“
Oder provokanter: „Gibt es derzeit zu wenig aggressive Videospiele, in der solche Menschen ihren Hass ausleben können?“
Ihr merkt: Es gibt unfassbar viele Seiten und niemand (auch ich nicht) sollte sich anmaßen, in irgendeiner Weise über etwas Bescheid zu wissen.
Nachdem ihr vor lauter Text wahrscheinlich schon alle eingeschlafen seid, kommen wir doch mal zum Film: Es gilt das gesprochene Wort greift nämlich eben jene „Vorbestimmtheit“ von Charakteren auf und verwandelt sie in das komplette Gegenteil. Der Film zeigt. Das, was niemand sehen möchte.
Ausländer müssen kriminell sein. Schmarotzer. Bösewichte, die am Unheil dieser Welt schuld sind. DIE ANDEREN!!! Wahhhh!
Und aus diesem Grund empfehle ich euch: Bleibt dem Film fern. Ihr seht es nämlich nur als moralische Bekehrungsversuche an. Politische Einflussnahme. Meinungsmache. Und genau das stimmt nicht.
Weder in der Realität – noch im Film. Tatsächlich hat mich diese Weichzeichnerei an dem Werk nämlich beides: Einerseits wahrlich begeistert, weil’s endlich mal nicht das Klischee ist, das ich nicht mehr hören möchte, was sich jeder in seinem alltäglichen Medienwahn gleich zurechtspinnt, andererseits extrem gestört, weil es mit der Zeit zu einer schillernden Traumblase wird, die ein dermaßen unrealistisches Licht auf diese Lebensformen und -weisen wirft, das in vielen Fällen eben doch der Realität entbehrt.
Ich würde sagen: Der Film ist der Gegenpart zur verzerrten Wahrnehmung in dieser Dimension – ein utopisches Wunschdenken – und die Realität liegt irgendwo dazwischen. Tatsächlich ist es auch extrem schwer, hier Bewertungen vorzunehmen, denn – wie eingangs erwähnt – der Mensch echauffiert sich so gerne über so vieles. Und hat am Ende doch überhaupt keine Ahnung.
Und dafür bietet Es gilt das gesprochene Wort unfassbar viel Unterredungsmaterial.
Also geht rein.
Und diskutiert danach.
Die Chance darauf habt ihr z.B. bei der Kino-Premiere in Hamburg am heutigen 30. Juli um 19:30 Uhr in den Zeise-Kinos, wo u.a. Regisseur Ilker Çatak, Anne Ratte-Polle, Godehard Giese und Ingo Fliess anwesend sein werden.
Weiter geht’s dann mit der Kinotour durch folgende Städte:
Berlin: 31. Juli 2019 – 20:30 Uhr – Filmtheater am Friedrichshain
Frankfurt / Main: 1. August 2019 – 20:30 Uhr – Cinema
Stuttgart: 2. August 2019 – 20:00 Uhr – Atelier am Bollwerk
Leipzig: 3. August 2019 – 20:00 Uhr – Passage
Potsdam: 4. August 2019 – 12:00 Uhr – Thalia Programmkinos
Bei allen Veranstaltungen sind jeweils Regisseur und diverse der oben genannten Personen vor Ort und stehen euch Rede und Antwort.
Wem das alles nicht passt, der kann sich schon mal das 15. Festival des deutschen Films in Ludwigshafen auf die Fahnen schreiben, dort wird der Film ebenfalls nochmals gezeigt.
Kontrovers anders und in meinen Augen gleichzeitig gut und schlecht: Er behandelt von der Öffentlichkeit geschundene Menschen gänzlich anders, vergeht sich aber an sich selbst und betreibt eine Weichzeichnerei, die meiner Meinung nach wieder destruktiv auf die Situation wirkt und Schönmalerei betreibt, statt die wahre Natur herauszuarbeiten. Das Gefühl der utopischen Wunschträumerei lässt einen irgendwann einfach nicht mehr los.
Nachspann: ⚪️⚪️⚪️ | Braucht man nicht abwarten, hier folgt nichts weiter.
Kinostart: 01. August 2019
Original Title: Es gilt das gesprochene Wort
Length: 120 Min.
Rated: FSK 12
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