
Wenn man sich früher gedacht hat: Sprache ist Sprache, die bleibt immer so, was soll sich da schon groß ändern, dann ist man inzwischen eines Besseren belehrt worden: Sprache ist im kontinuierlichen Wandel.
Es ist vielleicht einer der Gründe, warum ich mir gerade ein Hobby rausgesucht habe, wo ich viel mit Sprache zu tun habe: Ich finde es wahnsinnig interessant, wie im Laufe der Zeit ein und das selbe Wort zu einer absolut anderen Bedeutung findet.
Beispiel: Querdenken. Früher war das etwas sehr positiv konnotiertes. Wer ein Querdenker war, konnte stolz auf sich sein, weil er Kreativität besaß. Forschungsdrang. Auch mal über den Tellerrand hinausdenken konnte und unübliche Lösungen finden, die im unternehmerischen Sinne sehr hilfreich sein konnten. Man war eben nicht alteingesessen, konservativ und daraufhin in Teilen betriebsblind, sondern konnte die Firma vor einem Untergang bewahren, indem man querschoss und dadurch etwas Unerwartetes zutage förderte, das letztendlich allen den Arsch retten konnte.
Und heute? Inzwischen ist Querdenker schon fast auf dem gleichen Niveau wie Nazi: Absolut tödlich fürs Image und sowas von negativ behaftet, dass sich niemand als Querdenker bezeichnet wissen möchte (es sei denn, man ist einer und stellt seine medizinische Dummheit öffentlich gerne zur Schau).
Sprache ist auch etwas absolut scharfes – manche sagen: Ein Schwert. Eine Waffe. Mit Sprache wird extrem viel gekämpft – schon seit Jahrtausenden. Diplomaten können davon viele Liedchen singen – und generell: Manchmal hat man das Gefühl, es wird nicht mehr genug gesprochen.
Sprache löst so vieles. Deckt auf. Ändert Dinge. Hilft. Oder tötet – je nachdem, wie man sie einsetzt und wann man wo welches Pixel von schwarz auf weiß dreht, damit da dann ein Buchstabe draus wird, den die Menschen lesen und interpretieren können, um darauf folgend dann Emotionen zu entwickeln und so das Leben zu erfahren.
Warum ich das alles erzähle? In Liebe lassen beschäftigt sich sehr viel mit Reden. Und zwar von einem Arzt.
In diesen pandemischen Zeiten und dem ganzen Gemurkse, das uns sprachlich in den Medien immer wieder vorgekotzt wird, ist selbst das Wort Arzt schon ein Auslöser, weswegen man zusammenzuckt und sich denkt „Boah, mäh, ned schon wieder“.
Früher war das mal ein angesehener Beruf, der (genau wie Jurist) das Überleben von Familien sichern sollte und definitiv ein Garant für Erfolg war. Und heute? Schimpft sich jeder dahergelaufene Demonstrant „Arzt“, weil er jemanden massiert und darum angeblich qualifizierte Aussagen über Viren treffen kann (und darf)?
Ihr merkt, wie man an seiner eigenen Einstellung arbeiten muss, um nicht gleich bei dem Wörtchen „Arzt“ auszuticken, sondern sich erstmal sammeln und überlegen muss, dass es da ja auch noch andere Dinge gibt (und gegeben hat), die nichts mit diesem inzwischen unerträglichen Alltag zu tun haben.
In Liebe lassen beschäftigt sich also mit einem Arzt und schockiert in positivem Sinne. Was ist das für ein wahnsinnig guter Chef, wie geht der mit seinen Mitarbeitern, seinen Kunden um? Wie werden extrem heftige Themen hier sprachlich angepackt und angegangen?
Eine Gefühlsreise sondergleichen, der man keine unfähigen Momente andichten kann, sondern die einen auf allen Ebenen erwischt und mitreißt. Du bist als Zuschauer quasi von der ersten Minute an shocked und sitzt im Kinosaal mit offenem Mund – einerseits, weil das Thema heftig ist, andererseits, weil seit Dr. House niemand mehr an fähige Ärzte geglaubt hat und man hier einfach eben mal ein Lehrstück im Umgang mit Patienten bekommt, das ich als Pflichtlektüre in allen medizinischen Einrichtungen aufgearbeitet wünsche.
Unglaublich, mit welcher Professionalität diese Laiendarsteller (ja, Emmanuelle Bercot hat sich bewusst nicht für Profis entschieden) hier dieses Ding abliefern und damit so manch Alteingesessenem zeigen, wo der Hammer hängt.
.kinoticket-Empfehlung: Definitiv sehenswert – und zwar nicht nur für Mediziner: Ein Lehrstück im Umgang miteinander, sowohl zwischen Arzt und Patient als auch in der Gesellschaft als solches. Berührend, schockierend und zutiefst emotional.
Nachspann: ⚪️⚪️⚪️ | Braucht man nicht abzuwarten, hier folgt nichts weiter.
Kinostart: 20. Januar 2022
Original Title: De son vivant
Length: 122 Min.
Rated: FSK 12
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