
Was ich in meiner Kindheit bereits begriffen hatte: Die Menschen hassen Veränderungen.
Man besinne sich einfach mal ein paar Jahrzehnte zurück und denke nach, womit die lieben Leutchen alle so ihre lieben Schwierigkeiten hatten. Man läuft bereits Amok, wenn sich nur der Hauch einer Veränderung ankündigt. Dann formieren sich Gruppierungen, die laut schreiend auf die Straße rennen und ganze bäuerliche Mistgabel-Fackelzüge organisieren und dabei gegen Gott und die Welt wettern.
„Das gab‘s bei Oma und Opa schon und es hat immer gut funktioniert, warum sollten wir das auf einmal alles über den Haufen werfen?“
Jüngst hab ich einen Artikel in der ZEIT über Windkrafträder gelesen und mich damit auseinandergesetzt, was die Menschen alles so gegen Windräder vorzubringen haben. Das Gros der Beschwerden war eigentlich immer nur „Das geht überhaupt nicht. Punkt.“ So richtig gravierende Gründe kann bis heute keiner aufbringen, die gegen eine Windkraftanlage irgendwo auf den Gipfeln im Nirgendwo sprechen. Immer dann, wenn irgendwo was konkret wird, wettern die Einheimischen und ziehen gerichtlich in den Kreuzzug, um die Energiewende und das Retten unseres Planeten möglichst effizient aufzuhalten.
Argumentiert wird dann mit „Naja, das schreddert haufenweise Vögel.“
Meinst du dabei die Viecher, die dir völlig scheißegal sind, wenn du mit deinem Auto mit 290 Sachen über die A9 bretterst, wo sich dir weder Hirsch noch Ornithologisches in den Weg stellen darf, weil es ansonsten mit seinem Leben bezahlt?
Andere Frage: Was ist mit den Vögeln, wenn sich die Natur so weiter erhitzt und der Planet kollabiert und quasi das Leben als solches auslischt? Rettet man damit den Rotmilan dann besser?
Nein – der Hauptgrund, warum die Menschen wettern: Weil eine Veränderung ansteht, mit der die meisten per se erstmal extreme Schwierigkeiten haben. Lustigerweise zeigt sich das dann in Form von „Wenns einmal da ist, akzeptiert es das Umfeld sogar.“ Dann ist das Neue ja quasi schon integriert und somit „alt“ und gehört zu uns.
So wie seinerzeit die Türken, die bislang immer als Ausländer degradiert wurden, bis 2015 die Flüchtlingskrise kam und man dann auf einmal von „unseren Türken“ sprach. Seltsame Wandlungen.
Wozu ich das alles erzähle? Aus zwei triftigen Gründen.
Erstens: Es gab schon immer die zeitliche Gruft zwischen „Der Film wird generiert“ und „Der Film wird dem Publikum auf der Leinwand vorgeführt. Als „Normalsterblicher“ bekommt man davon oft wenig mit. Hier und da ein paar Artikel, bisschen Vorfreude und so … und irgendwann startet das Teil im Kino und man sitzt mit seiner gesamten Baggage im Saal und schaut ihn.
In der Presse sieht das schon anders aus: Auch hier ist noch eine Kluft zwischen „Drehstart“ und „Pressevorführung“, die ist aber in so ziemlich allen Fällen immer etwas vor dem offiziellen Kinostart – und der längste Abschnitt zwischen „Ich hab den Film gesehen“ und „Er startet endlich offiziell im Kino“ waren in meinem Fall 1,5 Jahre!
Nun haben wir in kürzester Zeit etwas erlebt, das man mit den Worten „Veränderung“ ziemlich treffend beschreiben kann: Durch den Angriffskrieg Russlands in der Ukraine hat sich unsere ganze Welt quasi über Nacht geändert und ziemlich viele Themen umgestaltet oder gar überflüssig gemacht. Dinge, an denen man also vor fünf Jahren gearbeitet hat, können heute schon eine völlig neue Relevanz aufweisen – in die eine oder andere Richtung.
Ich fürchte, dieser Streifen leidet so ein wenig unter diesem Phänomen, denn nach durchlittener Corona-Pandemie und nun noch einem Krieg on top sehen viele Menschen manche Probleme völlig anders als zu dem Zeitpunkt, als das Drehbuch hierfür entstanden ist.
Und zweitens – warum ich das alles erzähle: Dieser Film handelt von Veränderungen. Gravierenden Veränderungen für Menschen, die sie eben nicht aktiv herbeigezaubert haben, sondern ihnen quasi unterliegen.
Dazu gesellt sich dann die altbekannte humoristische Vergnüglichkeit des französischen Films plus jede Menge erzählerische Leichtigkeit und man erhält einen perfekt unterhaltsamen Abend, bei dem mal nicht so die politische Schwere auf dem Bankett serviert wird, sondern es eben um die Probleme geht, um die wir uns vor fünf Jahren noch gekratzt hätten.
Was ich damit sagen will: Bringt für diesen Titel ein wenig Veränderungstoleranz mit, was die thematische Relevanz des Ganzen angeht … und genießt die kleine Auszeit vom „Heute“, wenn ihr es euch dabei im Kinosessel mit Popcorn und Softdrink gemütlich macht. Auf einen schönen Abend mit guter Unterhaltung!
.kinoticket-Empfehlung: Veränderung: Ein Thema, das die Menschheit hasst, um das aber keiner bislang drumrum gekommen ist. Dieser Film setzt sich inzwischen auf multidimensionaler Ebene damit auseinander und bietet einmal mehr ein Fluchtfenster in eine inzwischen vergangene Zeit. French Humor – für einen gemütlichen Kinoabend durchaus zu gebrauchen.
Nachspann: 🔘⚪️⚪️ | Anfangs noch sitzen bleiben, beim Übergang in die Blackroll dürft ihr den Saal dann verlassen.
Kinostart: 12. Mai 2022
Original Title: Pourris gâtés
Length: 95 Min.
Rated: FSK 6
Auch interessant für dich
Erica Jong – Breaking the Wall
Seneca
Der vermessene Mensch