
Ich leite es mal mit einem Statement des Regisseurs Todd Field ein:
„Dieses Drehbuch wurde gezielt für eine Künstlerin geschrieben: Cate Blanchett. Hätte sie die Rolle nicht angenommen, wäre dieser Film niemals umgesetzt worden. Die Zuschauer, ob Laien oder nicht, werden davon kaum überrascht sein – schließlich ist sie eine absolute Meisterin ihres Fachs. Als wir den Film drehten, erlebten wir ihr unglaubliches Können und ihre Authentizität hautnah mit. Sie hat uns alle mitgerissen. Das Privileg, mit einer Künstlerin dieses Formats zusammenarbeiten zu dürfen, lässt sich nicht in Worte fassen. TÁR ist in jeder Hinsicht Cates Film.“
Daran merkt man, was der Unterschied ist, wenn jemand „mal ne Geschichte aufschreibt und man dann verzweifelt Leute sucht, die das irgendwie „umsetzen“ und man hinterher im Presseheft davon schwafelt, wie „passend“ xy für die Rolle doch sei blabla – oder eben hier: Wenn sich eine gesamte Produktion einer Darstellerin zu Füßen legt und ALLES tut, damit sie einfach ihr Ding machen und mega authentisch sein kann.
Ihr spürt Begeisterung? Ich sage euch, wieso. Mir kribbelt es sogar jetzt beim Schreiben schon wieder am ganzen Körper – ich habe selten etwas sooooooo Gutes und ECHTES gesehen wie hier – und ich weiß, wovon ich spreche, denn ich saß mit 3 Jahren schon selbst vor Publikum im Philharmonikum und habe Klavier zum Besten gegeben und danach 8 Jahre Musikschule durchlaufen mitsamt Band, Auftritten, jeder Menge 1. Platz-Preisen usw. – und dadurch auch im Musikbusiness ein wenig Ahnung von „Klassik“ und Konsorten.
Ich hätte nicht gedacht, dass ich es in meinem Leben nochmal erlebe, dass ich im Kino hocke und denke: „Sie sieht aus wie Cate Blanchett aber zum Heck nochmal: War das nicht eine Schauspielerin? Das da vorne ist keine Schauspielerin, das ist einfach die echte!“
Ganz ehrlich? Das Maß, wie man sich selbst übertrumpfen und schauspielerisch in die Ecke spielen kann, hat Blanchett in diesem Film ins Unendliche gesprengt und diese Ziele dann überschritten. Diese Leistung ist dermaßen oscarwürdig, dass es eine Frechheit wäre, sie nicht auszuzeichnen, ganz gleich, welche Konkurrenz man ihr dabei mit aufs Podium packt, bevor der berühmte Umschlag geöffnet wird – das hier…. ist höchste Liga.
Was der Film auch versteht: MUSIK! Und zwar diejenige, die die elitären Arschlöcher mit Feuilleton in der Hand und kubanischer Zigarre im Maul gerne auf dem Weg ins majestätische Opernhaus hören, um sich „verzücken“ zu lassen und zu feiern, was fernab der Straßen und des normalen Lebens stattfindet.
Dieser Film greift die Musik bei den Eiern und zeigt, was wirklich los ist! Er katapultiert den Vorhang weg und transparentisiert die ungeschöne Wahrheit auf die Leinwand und lässt das Publikum damit stehen. BOUM – das ist unser Business. So sieht’s aus, Leute.
Ihr fragt euch: Wie „zeigt“ man Musik? Wie kann man mit Bildern das tiefe Verständnis von Musik und Werken irgendwie inszenieren? Tja, geht in den Film, dann seht ihr’s – der schafft es nämlich. Ich hab selbst keine Worte dafür, die das annähernd beschreiben würden, ich weiß einfach nur, dass es funktioniert. Irgendwelche Mechanismen, von denen ich keine Ahnung habe, greifen so dermaßen geölt ins Fundament des künstlerischen Verständnisses, dass hier wirklich kein falsches „Klack“ oder irgend eine unschöne Handbewegung stattfindet – nein – das hier ist Kunst in Perfektion.
Was der Film auch macht: Er feiert sich nicht permanent selbst ab und lässt nichts anderes mehr auf der Welt koexistieren. Er zeigt neben der „wunderschönen Melodramatie der zeitgenössischen klassischen Kunst“ auch die hässliche Fratze der emotionalen Verkrüppelung und des humanen Ausbeutens, das man im „Namen des Schönen“ hinter den Kulissen vollzieht (auch davon kann ich persönlich viele grässliche Lieder singen), was wohl der Angreifpunkt partout ist, bei dem sich die feuilletonistische Liga mächtig auf den Arsch getreten fühlt und schon im Kino mit dem Abkotzen begonnen hat: „Buäääähhhhhhh war der SCHEISSSSSSSSE, ey, sowas von nicht mein Film, und näääääähhhhhhh und warum? Hä? BLABLABLA“ – ich bin mehrfach ausgerutscht auf der Gülle an Wortschwall, die im Foyer rumschwamm, nachdem ich als letzter den Saal verlassen hatte und dachte mir: Echt jetzt? Das ist „euer Ding“, das ist „euer Thema“, ihr seid die ganzen Penner, die ständig ins Theater rennen und jeden gottverdammten Marvel mit Hass bombardieren und nun kommt jemand und hält euch euer eigenes Niveau mal vor die Glysen und ihr wisst nichts besseres, als permanent im Chor darüber abzukotzen?
Ja, ist schon wieder ne Weile her, dass ich den Streifen gesichtet habe – aber ich hab inzwischen brav Hausaufgaben gemacht und angefangen, Interviews zu führen und bin auf die Presse-Riege los: „Was fandest du an dem Film denn scheiße?“
…
„Warum hast du nicht verstanden, dass…?“
…
„Meinst du nicht, dass man hier diesen und jenen Ansatz extrem gut aufgezeigt hat und hat nicht …. und dort nicht …. und was sagst du in dem Zusammenhang denn?“
….
Und wisst ihr, was passiert ist? Die Vögel sind alle wieder rein. Es gab nochmal ne Pressevorführung und sie sind wieder rein. Sie haben es sich nochmal unter den Gesichtspunkten angeschaut und wollten meine Thesen prüfen. Die Ergebnisse könnt ihr inzwischen in den hiesigen Zeitungen lesen – die fallen auf einmal nicht mehr so negativ aus, wie davor. Schon lustig, was?
Meine Meinung: Tár ist einer der besten Filme diesen Jahres und toppt mit einer konkurrenzlosen Cate Blanchett, die hier ein gesamtes Business auseinandernimmt und einmal mit der Wahrheit rausrückt, die nach und vor dem Applaus auf der Bühne stattfindet. Ich habe selten so viel ungeschönte Ehrlichkeit gepaart mit dieser devotierend-majestätischen Meisterleistung an Schauspiel-Göttlichkeit gesehen und mich selten SOOOOOOO verstanden von etwas gefühlt (gesagt von jemand, der aus dem Business geflohen ist und jetzt Gastro arbeitet und Kinokritiken schreibt).
Noch ein Tipp: Keine deutsche Synchro. Blanchett hat die wunderbare Eigenschaft, selbst deutsch sprechen zu können und mehr braucht es eigentlich nicht, den Rest versteht man bzw. sind die Dialoge so „einfach gehalten“, dass man auch ohne großartige Fremdsprachenkenntnisse mit kommt und die Untertitel dazu durchaus ausreichen.
Was allerdings Pflicht ist: GEHT IN EIN DOLBY KINO!!! Ja, dieser Film versteht auch technisch auf der Tonspur, was Musik ist … und ja, es haut einem die Ohren raus, wenn man im richtigen Kino sitzt. Allein das … WUAH! Gänsehaut! Dafür wurden Kinos gebaut!
.kinoticket-Empfehlung: Ich liege vor diesem Film und würdige ihn liebend gerne mit allem, was ich habe: Die schauspielerische Leistung von Blanchett ist gottgleich und auch inhaltlich punktet dieser Film mit so viel Wahrheit und ungeschönter Offenheit, die das romantische Flair aus der Welt der Klassik reißt und die hässliche Fratze der Realität offenbart: Wahnsinn, dass man so etwas noch erleben darf.
Wem das nicht als Argument reicht: Allein die Tonspur in einem Kino zu durchleben ist wahre Kunst – hier wurde auf allen Ebenen alles richtig gemacht. Für mich bislang der Top-Film des Jahres!
Nachspann: ⚪️⚪️⚪️ | Hier folgt nichts weiter, rausgehen erlaubt.
Kinostart: 02. März 2023
Original Title: Tár
Length: 159 Min.
Rated: FSK 12
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